Erdoğan: Nicht Union, SPD oder Grüne wählen (von

Der türkische Staatspräsident empfiehlt bei der deutschen Bundestagswahl Parteien, „die der Türkei nicht feindlich gesinnt sind“

Beim gestrigen Freitagsgebet in Istanbul rief der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan „alle [s]eine Landsleute in Deutschland“ auf, bei der Bundestagswahl am 24. September nicht für „die Christdemokraten, die SPD oder die Grünen“ zu stimmen. Für „[s]eine Bürger in Deutschland“ sei das eine Frage „der Ehre“. Die drei genannten Parteien sind Erdoğans Worten nach nämlich „Feinde der Türkei“ und machen eine türkeifeindliche Politik, um Wählerstimmen zu sammeln, was für Spannungen zwischen den beiden Ländern sorgt.

Obwohl einige Medien von einem einen „Boykottaufruf“ Erdoğans sprechen, rief der Staatspräsident nicht dazu auf, der deutschen Bundestagswahl fernzubleiben. Stattdessen meinte er, türkischstämmige Wahlberechtigte sollten „die politischen Parteien unterstützen, die der Türkei nicht feindlich gesinnt sind“. Dass er in diesem Zusammenhang meinte, es sei „nicht wichtig“, wie diese Parteien in der Platzierung abschneiden, deutet darauf hin, dass ihm möglicherweise vorschwebt, eine ihm zugeneigte politische Kraft in Deutschland zu etablieren. Die Moslempartei „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG), die dafür in Frage käme, wird an der Bundestagswahl 2017 jedoch nicht teilnehmen.

Unter den 42 anderen Parteien, die antreten und zugelassen wurden, kommen den Umfragen nach drei mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Bundestag: Die Linke, die AfD und die FDP. Die Linke konzentrierte sich in der Vergangenheit stark auf kurdischstämmige Wähler, die im Durchschnitt eher Erdoğan-kritisch sind, wie unter anderem eine aktuelle Stellungnahme des Generalsekretärs der Kurdischen Gemeinde in Deutschland zeigt. Viele Politiker der Linkspartei zeigen sogar Sympathien für die verbotene kurdische PKK, was ihr Wählerpotenzial unter ethnischen Türken begrenzt.

Auch die türkischstämmigen Kandidaten in der AfD sind eher nicht auf einer Linie mit Erdoğans AKP. Letztere propagiert einen politischen Islam und fördert in der Türkei die Verschleierung, während die AfD in Deutschland mit dem Plakat „Burkas? Wir steh’n auf Bikinis“ für sich wirbt (das die Rostocker Gleichstellungsbeauftragte Brigitte Thielk als „sexistisch“ verbieten möchte).

Potenziell am ehesten in Frage käme für AKP-Anhänger, die bislang die Grünen, die SPD oder die Union wählten, wahrscheinlich die FDP. Der (nicht ganz zu den Seiten 99 ff. ihres Wahlprogramms passende) Vorschlag ihres Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Christian Lindner, die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation als „dauerhaftes Provisorium“ anzusehen, deutet darauf hin, dass FDP-Politiker in einer neuen Bundesregierung einen realpolitischeren Kurs in der Tradition der sozialliberalen Ostpolitik der 1970er fahren könnten, der eventuell auch zu einer Entspannung der Beziehungen mit der Türkei führt.

Einen türkischstämmigen Kanzlerkandidaten finden türkischstämmige Wähler in Martin Sonneborns PARTEI, die den Kabarettisten Serdar Somuncu nominiert hat. Auf Twitter verlautbarten Sonneborn und Somuncu gestern mit der erwarteten ironischen Brechung: „Die PARTEI schließt sich der Forderung des Irren vom Bosporus, Erdoğan, an“ – worauf hin die Neue Havanna Zeitung amüsiert fragte: „Sonneborn und Kancler [sic] Serdar Somuncu, welchen Deal habt ihr mit Erdoğan eingefädelt. dass er von einem Wahlboykott der PARTEI absieht?“

In den Parteien, zu deren Nichtunterstützung Erdoğan aufrief, kam die Äußerung erwartungsgemäß schlecht an: Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte auf einer Wahlveranstaltung der CDU in Herford, sie „verbitte“ sich „jede Art von Einmischung“. Außenminister Sigmar Gabriel von der SPD meinte zwar, man solle dem türkischen Staatspräsidenten „weniger Beachtung“ schenken, machte dann aber genau das, als er einen „bislang einmaligen Akt des Eingriffs in die Souveränität unseres Landes“ beklagte und von einen „Versuch“, „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit [zu] zerstören“ sprach, dem man „entgegentreten“ müsse.

Ob und wie sich Erdoğans Aufruf auf des Wahlergebnis im September auswirken wird, ist schwer zu sagen: Einerseits könnte die Äußerung türkischstämmige Anhänger und deutsche Konvertiten wie den Hamas-Fan Martin Lejeune (der den AKP-Chef als großen „Reis“ verehrt) tatsächlich dazu bringen, nicht für Merkel, die SPD und die Grünen, sondern für die „Urbane Hip Hop Partei“ oder das „Bündnis Grundeinkommen“ zu stimmen. Außerhalb dieser beiden Gruppen ist Erdoğan in Deutschland eher unbeliebt. So unbeliebt, dass sein Aufruf Union, SPD und Grünen in der Summe sogar nützen könnte. Wie er sich letztendlich auswirkt, wird schwer zu ermitteln sein, weil im Wahlkampf auch zahlreiche andere Faktoren eine Rolle spielen – in den letzten Tagen etwa Thomas de Maizières gescheiterter Versuch, Daten zu Grenzkontrollen unter Verschluss zu halten, Aydan Özoğuz‘ Verteidigung der Urlaubsreisen von Flüchtlingen in ihre Heimatländer, oder Martin Schulz‘ Weigerung, über solche Themen mit Wählern zu reden.

Original-Telepolis-Beitrag