Interview mit Susanne Wiest: „Weniger Hamsterrad, mehr Sinn“

Im Dezember 2008 sorgte Susanne Wiest mit einer Petition an den Deutschen Bundestag dafür, dass das Thema „Grundeinkommen“ in Deutschland einen kräftigen Schub erhielt. Jetzt hat sie als Vorsitzende der erst kürzlich entstandenen Partei „Bündnis Grundeinkommen“ das Thema in Rekordzeit bundesweit auf die Wahlzettel der Bundestagswahl gebracht. Ronald Richter befragte sie über die Bedeutung dieses Versuchs mit ihrer Ein-Themen-Partei.

https://www.info3-magazin.de/weniger-hamsterrad-mehr-sinn/

Ronald Richter hat diesen Beitrag am 8. September 2017 in Zeitgeschehen gepostet.

 Susanne Wiest, wie sah Ihr Leben vor dem Thema Grundeinkommen aus?

Ich war Tagesmutter und lebte auf dem Land in Vorpommern. Kleine Dörfer, riesengroße Felder und eine sehr hohe Erwerbsarbeitslosigkeit. Wo früher ein ganzes Dorf in der Landwirtschaft tätig war, drehen heute riesige Traktoren ihre Runden, oft im Auftrag von Firmen, die gar nicht aus der Region kommen, schon GPS-gesteuert, Aussaat und Ernte – fast ohne Menschen. Dörfer ohne Erwerbsarbeit, Menschen ohne Einkommen, oft wie gelähmt und gefangen in einem komplizierten Behörden- und Antragswirrwarr. Aus der Politik hörte ich immer nur „Wir müssen wieder Vollbeschäftigung erreichen“. Angesichts der Entwicklungen vor meinen Augen eine seltsam weltfremde Forderung, die mich wirklich irritierte. Eine Entwicklung forcieren und gutheißen – den technischen Fortschritt – und gleichzeitig, die logische Konsequenz – weniger Erwerbsarbeitsplätze – beklagen, erschien mir unlogisch und schizophren. Allerdings konnte ich selbst auch keinen Ausweg erkennen.

 

Wie kam es zu der Entdeckung?

2006 las ich auf einer goldenen Karte im Internet die wunderbare Frage von Daniel Häni: „Was würden Sie arbeiten, wenn für Ihr Einkommen gesorgt wäre?“ Ich hatte keine Ahnung, was diese Frage bedeuten sollte und fühlte mich ein wenig auf den Arm genommen: Für mein Einkommen sorge ich doch selbst. Das ist ja der tägliche Stress, der mich und viele andere gerade in dieser strukturschwachen Region so umtreibt und beunruhigt. Ich klickte, um die goldene Karte mit der interessanten Frage umzudrehen, und stieß auf das Bedingungslose Grundeinkommen. Ich erfasste die Tragweite, die Genialität und auch die Notwendigkeit dieser Idee sofort. Es war, als würde ein Licht angehen. Endlich eine zeitgemäße Antwort auf die Fragen der Zeit. Ich war und bin begeistert und Daniel Häni sehr dankbar für diese „Türöffner-Frage“.

 

Warum, meinen Sie, muss das BGE kommen?

Das Bedingungslose Grundeinkommen wirft die richtigen Fragen auf: Was ist Arbeit? Nur Erwerbsarbeit oder auch all die viele nicht entlohnte Arbeit, die täglich überall in den Familien und in der Gesellschaft geleistet wird? Können wir wirklich noch von einem Arbeitsmarkt sprechen, wenn wir zu jedem bescheuerten Arbeitsangebot fast schon besinnungslos, „Ja“ sagen müssen, weil sonst die ganze Existenz auf dem Spiel steht? Auf jedem Gemüsemarkt kann ich wählen und mich nach meinem Bedürfnissen entscheiden. Faules Obst – faule Jobs – lasse ich lieber liegen. Ich würde auch sagen, die Demokratie braucht das Grundeinkommen, sonst bleibt sie auf der Strecke. Demokratische Rechte dürfen nicht nur für Besitzerinnen und Besitzer von Erwerbsarbeitsplätzen gelten. Götz Werner nannte Hartz IV einmal „offenen Strafvollzug“: Keine freie Ortswahl, keine freie Berufswahl und die unantastbare Menschenwürde, in Artikel 1 des Grundgesetzes festgeschrieben, wird durch Hartz IV verletzt. Auch die Arbeit braucht das Grundeinkommen, damit wir frei entscheiden können, welche Tätigkeiten uns selbst als sinnvoll erscheinen und was wir wirklich tun wollen. Sinnentleerte Arbeit, nur um einen Einkommensplatz zu haben? Da bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten und vergeuden unser Potenzial. Mit dem Grundeinkommen ziehen wir unserer Gesellschaft einen Boden ein, der alle trägt.

 

Welche Höhe des Grundeinkommens vertreten Sie?

Ich persönlich vertrete gar keine Höhe. Ich könnte nur sagen, bei welchen Betrag ich mich gut abgesichert fühle.

 

Und der wäre?
Also, für mich persönlich würde der notwendige Betrag um 1500 Euro liegen. Aber Sie sprechen mit Ihrer Frage sicherlich das neugegründete Bündnis Grundeinkommen an, in dem ich seit März Bundesvorsitzende bin. Das Bündnis Grundeinkommen ist eine Partei wider Willen, weil es keine Volksabstimmungen in Deutschland gibt – eine Partei mit einem einzigen Thema, die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens. Nach unserem Bündnis-Verständnis muss ein Grundeinkommen die Existenz sichern und die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Das haben wir auch in unserem Parteiprogramm festgehalten. Über die konkrete Höhe muss gemeinsam politisch entschieden werden. Wir machen daher bewusst keine Aussage zur Höhe und Finanzierung. Uns geht es darum, möglichst viele Menschen in Deutschland auf das Bedingungslose Grundeinkommen aufmerksam zu machen und das Thema durch unser Angebot „Grundeinkommen ist wählbar“ auf die politische Agenda zu setzen.

 

Wie und in welchem Zeitraum wollen Sie es realisieren?

Realisieren können wir das Grundeinkommen nur alle zusammen. Es liegt an uns, wie lange das dauert. Wir können aber beobachten, dass das Thema enorm an Fahrt aufnimmt. Wenn sich bei der kommenden Bundestagswahl viele Menschen dafür entscheiden, sich klar für das Bedingungslose Grundeinkommen auszusprechen und dem Bündnis Grundeinkommen ihre Zweitstimme geben, wäre das sicherlich ein starker Schub in Richtung Realisierung.

 

Was sagen Sie zu den ersten Experimenten wie in Finnland? Zeigen die nicht auch, dass das BGE, wenn überhaupt, recht abgespeckt realisiert wird?

Ich erachte es als positiv, dass Feldversuche wie in Finnland die Debatte über das Bedingungslose Grundeinkommen befeuern. In Finnland kann allerdings nicht von einem Bedingungslosen Grundeinkommen gesprochen werden, sondern allenfalls von einem partiellen. Die Höhe von 560 Euro ist nicht existenzsichernd. In welchem Umfang und in welcher Form ein Bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland umgesetzt wird, haben wir alle selbst in der Hand.

 

Was sagen Sie zum geplanten Bürgergeld in Schleswig-Holstein?

Noch ist zu den konkreten Plänen ja nicht allzu viel bekannt. Es zeigt aber: Deutschland ist reif für ein Bedingungsloses Grundeinkommen! 52 Prozent der deutschen Bevölkerung wollen es laut einer Ipsos-Umfrage schon heute einführen. Mit dem Angebot von Bündnis Grundeinkommen „Grundeinkommen ist wählbar“ können alle, die das wollen, bei der Bundestagswahl 2017 ein klares Zeichen für das Thema setzen.

 

Ist das Bedingungslose Grundeinkommen nicht ein recht kapitalistisches Instrument, mit dem der Konsum weiter schön angekurbelt werden kann?

Es geht beim Bedingungslosen Grundeinkommen nicht um die Ankurbelung des Konsums. Es geht um die bedingungslose Grundabsicherung der Existenz und damit um die Freiheit und Möglichkeit, eigene Stärken und Interessen selbstbestimmt in die Gesellschaft einbringen zu können. Wie das jede und jeder nutzen will, das bleibt offen. Das ist das Gebot der Bedingungslosigkeit.

 

Trotzdem: Sollten wir nicht das Immer-mehr hinter uns lassen zum Wohle der Erde, der Menschen und der Natur?

Das ist in der Tat eine wichtige Frage. Das Bedingungslose Grundeinkommen stellt aber zunächst eine andere, sehr persönliche Frage: Was würdest Du tun, wenn für Dein Einkommen gesorgt wäre? Ich persönlich würde mich zum Beispiel stark für den Umweltschutz engagieren. Adrienne Göhler nannte das Bedingungslose Grundeinkommen „das fehlende Betriebssystem der Nachhaltigkeit“ und meinte damit, dass Menschen mit einem Existenz und Teilhabe sichernden Grundeinkommen natürlich auch bessere Möglichkeiten hätten, sich im Umweltschutz oder für andere wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu engagieren.

 

Haben wir nach der Wahl alle ein Grundeinkommen? Obwohl Sie ein bisschen spät durchgestartet sind zur Publikmachung Ihres Bündnisses?

Dank einer beeindruckenden Gemeinschaftsleistung sind wir schon diesmal in allen 16 Bundesländern wählbar — und das als eine von zehn Parteien in Deutschland und fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Gründung. Damit haben wir bereits jetzt einen wichtigen Meilenstein gesetzt: Das Bedingungslose Grundeinkommen ist für alle wählbar. Dieses demokratische Angebot bundesweit zu ermöglichen, dass auf allen 60 Millionen Wahlzetteln BGE steht, war unser Ziel und das haben wir erreicht. Wenn Sie und ausreichend weitere Wählerinnen und Wähler am 24. September Grundeinkommen mit ihrer Zweitstimmen „Bündnis Grundeinkommen – BGE“ wählen, haben wir es sofort! (lacht) Es liegt also, wie immer, an uns. ///

Aktueller Trailer des BGE-Bündnisses „Grundeinkommen ist wählbar“

Das Interview erschien in der Zeitschrift Info3 – Anthroposophie im Dialog Ausgabe 9/2017. Probeheft hier kostenlos bestellen.