Großprojekt zur Landtagswahl: Große oder kleine Partei, prominent oder unbekannt: Der hr-Kandidatencheck macht keinen Unterschied. Jeder der fast 800 Bewerber um ein Landtagsmandat kann sich in einem Video den Wählern zeigen. Der eine kommt übermüdet, der andere mit Döner.

Videobeitrag (2:33 Min.)

Das war eine unruhige Nacht. „Ich bin schon seit gestern Abend super nervös. So etwas hab ich ja nicht dauernd“, sagt Jochem Kalmbacher. Dann betritt der 54-Jährige aus Offenbach tapfer das Mini-Studio im Frankfurter Funkhaus, setzt sich auf den Stuhl vor die Kamera – und schon befindet er sich auf Augenhöhe mit Kabinettsmitgliedern, Fraktionschefs und anderen prominenten Politikern des Landes.

Denn ob Volker Bouffier (Ministerpräsident, CDU), Thorsten Schäfer-Gümbel (Oppositionsführer, SPD) oder eben Jochem Kalmbacher (Betreiber eines ambulanten Pflegedienstes, Die Violetten): Vor dem hr-Kandidatencheck sind alle gleich.

Transparente Willensbildung

Es ist eine bislang einmalige Sache für Hessen: Auf einer Online-Plattform kann sich jeder einzelne der bis zu 800 Politikerinnen und Politiker, die zur Landtagswahl am 28. Oktober antreten wollen, den Wählern zeigen: In einem vierminütigen Video-Interview beantworten alle, die mitmachen, unter Live-Bedingungen und ohne Schnitte dieselben Fragen. Die Liste hat 33 Punkte. Es geht um Wohnungsnot, Kinderbetreuung, die Asylpolitik, Dieselfahrverbot, Landflucht oder Windkraft. Und um das Thema, über das sie am liebsten ihre erste Rede im neuen Parlament halten würden.

Seit einigen Tagen laufen die Dreharbeiten: im Frankfurter Funkhaus sowie in den hr-Studios in Kassel, Fulda, Gießen, Wiesbaden und Darmstadt. Bis Mitte September geben sich die Teilnehmer an ausgewählten Tagen im 20-Minuten-Rhythmus die Klinke in die Hand.

Der Check ist ein Beitrag zur Transparenz und politischen Willensbildung der Hessen, wie hr-Multimedia-Chef Tilo Barz sagt: „In den Videos werden die Persönlichkeiten ebenso zum Tragen kommen wie die Inhalte, für die sie stehen. Der hr-Kandidatencheck ermöglicht dabei Breite und Tiefe, die die journalistische Berichterstattung auf anderen Wegen effektiv ergänzt.“

Fast alle freuen sich

Bewerber der größeren Parteien haben sich fleißig angemeldet. Aber nicht nur sie. Von ÖDP bis Tierschutzpartei, von Freien Wählern bis zum Bündnis Grundeinkommen: Die Resonanz ist enorm und fast ausschließlich positiv. „Gerade wenn es sich nicht um die Spitzenkandidaten und Schwergewichte der größeren Parteien handelt, freuen sich die meisten sehr über die Möglichkeit, sich den Wählern zu zeigen“, berichtet Karsten Hufer, der für den Kandidatencheck verantwortliche Redakteur.

Denn die meisten standen noch nie im Rampenlicht. Bisher wollen schon rund 550 Landtagskandidaten dabei sein. Bewusst ist keine Partei, die an der Wahl teilnimmt, ausgeschlossen – auch nicht die NPD. „Selbst wenn einem die Antworten im Einzelnen nicht gefallen: So viel muss Demokratie aushalten“, sagt Hufer.

Das heißt nicht, dass die Macher alles durchgehen lassen: Jedes Interview wird vor Veröffentlichung noch redaktionell geprüft, um verfassungsfeindliche oder diskriminierende Aussagen gegebenenfalls übertönen zu können.

Ungeschnitten, ungeschminkt – und keine Sekunde mehr

Die Vielfalt ist nicht nur politisch enorm. Ein Satire-Partei-Politiker verbringt seine Zeit vor der Kamera mit Döner-Mampfen. Das geht durch: Ist ja nicht verfassungsfeindlich und auch sonst nicht verboten. Das gilt auch für den Piraten-Vertreter, der kurz noch mal in der Toilette neben dem Studio verschwindet. „Ein Bekannter hat mir empfohlen, ein bisschen Puder aufzutragen.“

Denn in die Maske nimmt der hr niemanden. Auch sonst sind die Regeln eindeutig: Jeder hat vier Minuten vor der Kamera und keine Sekunde mehr. Jeder bekommt die exakt gleiche Kameraeinstellung vor derselben blauen Stellwand. Und dann die Einheitsliste – bei den Fragen. Sie werden in verbindlicher Reihenfolge gestellt, soweit jeder kommt.

Überspringen ist erlaubt, Spickzettel auch. Für einen zweiten Take einfach noch mal vorne anzufangen? Ausgeschlossen!

Mit der Stoppuhr geübt

Jochem Kalmbacher ist ungeschminkt, kaut nicht und hat keine Notizen. „Warum wollen Sie in den Landtag gewählt werden?“ – gleich für die Auftaktfrage nimmt sich der examinierte Krankenpfleger und ausgebildeter Schamane viel Zeit. Er spricht über sein wichtigstes Anliegen: deutliche Verbesserungen in der Kranken- und Altenpflege.

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Vier Punkte handelt er schließlich ab, zwischendurch hat er auch mal „weiter“ gesagt. Am Ende ist der „Hobbypolitiker“, wie er sich selbst nennt, zufrieden. „Zwei, drei Fragen mehr hätte ich zwar gerne geschafft. Aber zuhause mit der Stoppuhr war es nur eine.“

Die größte Herausforderung

Der Clip wird noch formatiert und untertitelt, um später mit den hunderten von anderen Videos online zu erscheinen. Eine Suchfunktion wird den Nutzern der Plattform helfen: Sie sortiert auf Wunsch alles nach Partei, Postleitzahl, Alter oder Geschlecht.

Die „vielleicht größte Herausforderung“ liegt nach Einschätzung von Projektleiter Hufer darin, überhaupt mit allen Landtagskandidatinnen und -kandidaten in Kontakt zu kommen und einen individuellen Termin zu vereinbaren. Ändern kann sich theoretisch auch noch etwas: Wenn der Landeswahlleiter Ende der Woche offiziell über die Zulassung der Landeslisten und Bewerber entscheidet.

Für Last-Minute-Interessenten am Kandidatencheck gibt es längere Fristen. Wenn Termine frei sind, werden sie auch noch am allerletzten Drehtag vergeben. Es soll ja möglichst jeder dabei sein.

EINE CROSSMEDIALE KRAFTANSTRENGUNG

Anfang Oktober, vier Wochen vor der Landtagswahl, wird der hr-Kandidatencheck online gehen. Es ist eine Premiere für Hessen – völliges Neuland betritt der Hessische Rundfunk nicht.

  • In Finnland und in Nordrhein-Westfalen haben öffentlich-rechtliche Anstalten sehr gute Erfahrungen mit dem Kandidatencheck-Konzept gemacht. Der WDR hat dafür sogar einen Grimme Online Award bekommen.
  • Der hr greift bewusst auf diese Erfahrungen und die WDR-Technologie zurück. Nutzer und Beitragszahler profitieren also auch von der Zusammenarbeit in der ARD. Aufwand und Umsetzung in Hessen sind trotzdem enorm.
  • „Das geht nur durch eine crossmediale Kraftanstrengung“, sagt hr-Multimedia-Chef Tilo Barz. Online, Hörfunk und Fernsehen arbeiten eng zusammen, um alles zu schaffen: von Redaktion über Aufnahmeleitung bis Schnitt und Untertitelung.

Quelle: hessenschau.de