Wo vom Grundeinkommen die Rede ist, geht es meist um eine finanzielle Mindestabsicherung, die der Staat ohne Bedingungen zahlt. Die Idee kam in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder auf, auch in Deutschland. Eine Initiative Mein Grundeinkommen verlost hier regelmäßig Grundeinkommen von monatlich 1000 Euro für ein Jahr. Und 2017 trat bei der Bundestagswahl ein Bündnis Grundeinkommen an, also eine Partei, die allein das Ziel einer neuen Grundsicherung verfolgt.
Grundeinkommen von 560 Euro: „Wir sind immer noch arm“
Der Brief kommt von der finnischen Sozialbehörde Kela. Sie teilt Juha mit, dass er nun Teil eines sozialen Experiments ist, mit dem sein Land Antworten auf drängende Zukunftsfragen finden will: Wie wollen wir leben und arbeiten, wenn sich ringsherum alles ändert? Wie soll der Staat dafür sorgen, dass die Bürger finanziell abgesichert sind?
Statt des Arbeitslosengeldes steht Juha zwei Jahre ein Grundeinkommen zu. Es fällt etwa hundert Euro niedriger aus als die Summe, die er vorher vom Amt erhielt. Doch alles, was er zusätzlich verdient, darf er behalten. Während des Experiments ist er dem Arbeitsamt keine Rechenschaft schuldig. Wie werden er und die anderen damit umgehen? Werden Menschen mit Grundsicherung eher träger oder aktiver?
Wenn die Arbeit nicht mehr zum Leben reicht
Wo vom Grundeinkommen die Rede ist, geht es meist um eine finanzielle Mindestabsicherung, die der Staat ohne Bedingungen zahlt. Die Idee kam in den vergangenen Jahrzehnten immer mal wieder auf, auch in Deutschland. Eine Initiative Mein Grundeinkommen verlost hier regelmäßig Grundeinkommen von monatlich 1000 Euro für ein Jahr. Und 2017 trat bei der Bundestagswahl ein Bündnis Grundeinkommen an, also eine Partei, die allein das Ziel einer neuen Grundsicherung verfolgt.
Gegner und Befürworter führen zudem teils hitzige Debatten. Für die einen ist das Grundeinkommen ein Heilsversprechen. Für andere bedeutet es das Ende des Leistungsprinzips und gilt als kaum bezahlbar.
Auch die Demografie drängt zur Suche nach Alternativen. Denn wo sich Bevölkerungspyramiden umdrehen – und die Zahl der Rentner steigt –, müssen weniger Arbeitende eine größere Zahl von alten Menschen finanzieren. Die Sozialsysteme drohen zu kippen, Zeit für neue Ideen.
Doch woher das Geld für ein Grundeinkommen nehmen, wenn viele Sozialkassen überlastet sind? Es könnten Gruppen beteiligt werden, die sich bei der Finanzierung des Gemeinwesens noch zurückhalten, sagen Befürworter – zum Beispiel durch Steuern auf Börsenumsätze oder höhere Erbschaftssteuern. Bestimmte heutige Leistungen könnten auch eingespart werden oder im Grundeinkommen aufgehen. Viele der Rechenmodelle sind selbst wieder umstritten.
Mal Tausendsassa, mal Schmarotzer
Als Medien beginnen, über das Experiment zu berichten, stoßen sie schnell auf Juha und dessen Familie, die in Jurva in der Region Südösterbotten im Westen Finnlands ein altes Schulhaus bewohnt. Etwa 300 Anfragen werden es im ersten Jahr. Warum taucht vor allem er in der Berichterstattung auf und nicht die 1999 anderen Bezieher? „Ich will darüber reden“, sagt er. Viele andere schämten sich.
Doch auch Juhas Erscheinung trägt zum Interesse bei: mit geflochtenen Armbändern, Bart und Zylinder wirkt er alternativ. „Bist du ein Zauberer?“, fragen Kinder in Juhas Heimatstadt manchmal. Zum Beweis zieht er Lollis aus der Hutkrempe hervor. Dazu ist er ein Arbeitsloser aus einem Bildungsmilieu: die Eltern Künstler, der Vater war lange Direktor einer Kunsthochschule.
Die Familiensituation ist vieles, nur nicht durchschnittlich: sechs Kinder, ein Haus am Rande der Wildnis voller wunderlicher alter Möbel. Sohn Akseli ist als Teenager ein so talentierter Fußballer, dass er von finnischen Erstligisten umworben wird. Und mittendrin ein Familienhund mit einem Anteil Wolfsblut. Der Hund kennt keine Leine, die Kinder kennen kaum Zwang.
Mal kommt Juha in den Medienberichten als Tausendsassa rüber: als Mann, der zwischen Kunst und Handwerk nahezu alles beherrscht und der Ideen entwickelt, weil der Staat ihn in Ruhe lässt. In anderen Storys wird er als Exzentriker gezeigt, der Geld fürs Daumendrehen bekommt.
Bis 2012 schreinerte Juha zwischen Finnland und Russland Fenster für traditionelle Holzhäuser. Es fühlte sich damals richtig an, sagt er. Wie heute mit Grundeinkommen, wenn er Instrumente baut.
Das Handwerk liegt ihm, die Buchhaltung nicht. Als sein altes Geschäft damals den Bach runterging, konnte er die Werkstatt nicht mehr betreten, ohne dass ihm übel wurde: erst die Angst, dann die Übelkeit, dann der Burn-out. Juha gab keine Steuererklärung mehr ab. Das Finanzamt forderte Geld. Weil er nicht zahlen konnte, wurden Werkzeuge und Maschinen zwangsversteigert.
Die rund 60 Kilometer lange Fahrt nach Seinäjoki, das Warten vor funktional eingerichteten Arbeitszimmern. Dann vor den Beamten beweisen, dass man nicht faul gewesen ist, weil sonst Sanktionen drohen. Und wenn man es doch war: nichts anmerken lassen. Keine größeren Beträge dazuverdienen, weil das wieder abgezogen würde.
Viele Jobs sind weggefallen
200 Jahre lang war die Region um Jurva ein Zentrum der Möbelherstellung. Doch die Holzindustrie hat sich zurückgezogen. Heute, da Discounter günstig Bausätze zur Selbstmontage verkaufen, interessierten sich nur Liebhaber für traditionelle Handwerksstücke. Jobs? Das war einmal, sagt der Familienvater. Doch den Ort verlassen, an dem die Familie zu Hause ist? Für ihn ist das keine Option.
Welche Rolle die Arbeit im Leben der Menschen spielen sollte, wird seit Ewigkeiten diskutiert. Es ist eine Beziehung, die viele wie ein Naturgesetz empfinden: Die Arbeit gehört zum Leben. Wer arbeitet, hat nach dieser Logik Anrechte, wer es nicht tut, ist selbst schuld.
Schon in der Bibel ist die Vorstellung zu finden. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, so mahnt Apostel Paulus die Bewohner der griechischen Stadt Thessaloniki. Bei Martin Luther wird daraus: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.“
Juha selbst beschreibt sich und die Situation eher trocken. Er glaube nicht, dass ein Grundeinkommen Menschen zu Wodka-trinkenden Couch-Potatoes mache, erläutert er, als er im Frühjahr 2018 im Berliner Haus der Kulturen an einer Diskussion teilnimmt. Die linke Tageszeitung „taz“ hat dazu geladen. Für ein paar Tage sei das vielleicht toll. Aber dann werde es auch langweilig, so allein mit dem Wodka auf der Couch. Im Publikum wird gelacht. Er spricht Finnisch. Eine Dolmetscherin übersetzt simultan.
„Ich sehe meine Situation heute positiv“, sagt Juha. Ob es reicht, um am Ende auf eigenen Beinen zu stehen? Er spekuliert nicht. Dass es nach der letzten Rate erst mal ohne Grundeinkommen klappen muss, ist bereits klar. Das Experiment soll regulär auslaufen. Und im Anschluss sollen die Wissenschaftler die Ergebnisse prüfen und veröffentlichen.
Die Forschergruppe der Sozialbehörde hatte vergeblich vorgeschlagen, das Experiment auf 10.000 Teilnehmer auszuweiten. „Auch auf Menschen, die im Berufsleben stehen“, erläutert Michael Opielka, Professor für Sozialpolitik an der Ernst-Abbe Hochschule in Jena, der seit Jahren über Grundeinkommen forscht und als Befürworter gilt. Der Erkenntniswert wäre gestiegen, so das Argument.
Rund 400 Kilometer entfernt, in Jurva, nimmt Juha das zur Kenntnis. Sollten seine Zuverdienste für eine Selbstständigkeit nicht reichen, wird er 2019 wieder offiziell arbeitslos sein. Das Amt würde das Geld für die Trommeln anrechnen. Die Järvinens stünden finanziell wohl wieder schlechter da. Je näher das Ende des Jahres rückt, desto öfter meldet sich die Angst, dass alles von vorne beginnen könnte.
Macht oder Ohnmacht im Leben
Und die Steuerzahler, die am Ende alles finanzieren? Eine Neiddebatte brauche es nicht, sagt Juha. Ziel sei ja, dass alle das Gleiche bekämen. Und wenn man das Grundeinkommen als Grundrecht verstünde, sei von Neid nicht mehr die Rede, weil Grundrechte unveräußerlich seien. Auch heute Unbezahltes würde dann entlohnt: das Erziehen der Kinder, die Pflege der Eltern, Vereinsarbeit.
Als Ansi 13 wird, bittet sie den Vater um ein Zelt. Sie will im Wald schlafen: ihre Angst überwinden. Juha gibt es ihr. In der ersten Nacht baut Ansi das Zelt auf dem Hof auf. In der zweiten Nacht zieht sie hundert Meter weiter, an den Waldrand. Den Rest der Woche verbringt sie zwischen dunklen Nadelgehölzen und lauscht vor dem Einschlafen den Waldtieren, deren Stimmen immer vertrauter werden.
Vier Jahre ist das her. Im vergangenen Jahr ist Ansi nach Südkorea gereist, ganz allein, mit 16. Juhas Augen funkeln, als er das erzählt. Vor Stolz.