Susanne Wiest: Die Parteivorsitzende
Früher wohnte sie in einem Zirkuswagen. Heute will Susanne Wiest mit dem „Bündnis Grundeinkommen“ in den Bundestag.Von Sven Siedenberg
DIE ZEIT Nr. 22/2017
Eisiger Ostwind pfeift über den Greifswalder Marktplatz mit den gotischen Giebelhäusern und barocken Backsteinfassaden. Passanten huschen an den Gemüse- und Blumenständen vorbei. Mittendrin steht eine Frau hinter einem Bistrotisch, bewaffnet mit Klemmbrett und Kugelschreiber. Sie trägt die langen roten Locken offen und auf dem Rücken einen handtaschengroßen Lederrucksack. Sie sieht aus wie eine Astrid-Lindgren- Figur.
Tatsächlich ist sie: Parteivorsitzende.
Susanne Wiest, 50 Jahre, soll eine Partei in den Bundestag führen, die bislang kaum jemand kennt. Die Partei hat nur ein einziges Ziel: die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens. Sobald das Ziel erreicht ist, will sie sich selbst wieder auflösen.
Nur noch vier Monate bleiben Susanne Wiest bis zur Wahl. Deshalb steht sie hier, vor ihr liegt ein Plakat, ausgerollt auf den grauen Pflastersteinen des Marktplatzes. Darauf steht in großen Lettern: „Was würdest du tun, wenn für dein Grundeinkommen gesorgt wäre?“ Darunter sind Antworten aufgelistet, zum Beispiel: „Meine Arbeitszeit reduzieren“ oder „Mich sozial, kulturell, politisch etc. engagieren“. Die Leute sollen eintragen, welche Antwort auf sie zutrifft. Ein zersauster Turnschuhträger bleibt vor dem Plakat stehen, greift sich einen der herumliegenden Filzstifte, beugt sich nach unten und macht einen Strich bei „Das Gleiche wie bisher, vielleicht sogar besser“. Die meisten Striche kommen an diesem Samstagvormittag für den Satz „Mich weiterbilden, studieren, eigene Talente fördern“ zusammen, die wenigsten für „Nichts tun“.
Susanne Wiest sammelt Unterschriften für die Zulassung der neu gegründeten Partei Bündnis Grundeinkommen. Bis zum 17. Juli müssen sie und ihre Mitstreiter in allen Bundesländern insgesamt 27.000 Unterschriften beisammen haben. 22.000 hätten sie schon, sagt Wiest. Doch erst wenn die restlichen 5.000 Unterschriften vorliegen, darf die Partei bei der Bundestagswahl antreten. „Gehören Sie zu den Grünen“, will eine ältere Dame wissen. Wiest erklärt ihr geduldig, dass sie nichts mit den anderen Parteien zu tun habe, sondern für eine neue, sinnstiftende Idee stehe. Dann prasseln plötzlich Hagelkörner vom Himmel. Wiest knöpft den Mantel zu und spannt einen goldfarbenen Regenschirm auf. Das war’s vorerst mit dem Straßenwahlkampf in Greifswald. Bilanz: 14 Unterschriften.
Es ist mühsam, wenn eine Utopie auf das deutsche Parteigesetz stößt. Vor allem für Wiest, eine Frau, die lange ohne fließendes Wasser in einem Zirkuswagen wohnte und die nun aus der wohl populärsten ökonomischen Utopie ein Parteiprogramm machen und Unterstützer finden soll.
Die Idee des Grundeinkommens hat prominente Fürsprecher, zum Beispiel den SAP-Vorstand Bernd Leukert oder Götz Werner, den Inhaber der dm-Drogeriemärkte. Der Philosoph Richard David Precht wirbt für die Idee, genau wie die Konzernchefs Joe Kaeser (Siemens), Timotheus Höttges (Telekom) oder Elon Musk (Tesla). Laut einer Umfrage des Berliner Meinungsforschungsinstituts Dalia Research befürwortet in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung ein Grundeinkommen. Andere Umfragen kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Nur in Greifswald, da scheinen die Unterstützer nicht zu sein.
Nach dem Hagelschauer wärmt sich Wiest in einem nahegelegen Hotel auf. Sie trinkt Kräutertee. In Mecklenburg-Vorpommern fehlen noch 600 der 1.351 benötigten Unterschriften. Dafür wirkt Wiest ziemlich entspannt. Im Saarland und Nordrhein-Westfalen hat es schon geklappt, dort ist ihre Partei bei den letzten Landtagswahlen angetreten. „Das ist ein Erfolg“, sagt sie. Die Ergebnisse allerdings waren bescheiden. Im Saarland bekam die Partei 0,1 Prozent der Stimmen, in Nordrhein-Westfalen 0,06 Prozent. Wiest sagt, die Partei stehe halt noch am Anfang.
Nach dem Abitur zieht sie mit einem selbst genähten Zelt über Mittelaltermärkte
Es gab schon viele Ein-Themen- Parteien in Deutschland. „Die Grünen haben die Umweltpolitik ins Parlament getragen, die Piraten die Netzpolitik“, sagt Wiest. „Wir wollen die Idee des Grundeinkommens in den Bundestag tragen.“ Manche dieser Parteien schafften es, aus der Nische herauszukommen. Andere leben seit Jahrzehnten mit Wahlergebnissen jenseits der Messbarkeitsgrenze: die Tierschutzpartei, die Grauen Panther, die Violetten. Wiests Partei ist noch winziger. Sie muss überhaupt erst mal zur Wahl zugelassen werden.
Von der ohnmächtigen Bürgerin zur engagierten Aktivistin
Gegründet wurde das Bündnis Grundeinkommen im September 2016, beflügelt von der Volksinitiative zum Grundeinkommen in der Schweiz. Die hatte zum ersten Mal weltweit Bürger über die Idee abstimmen lassen.
Die Schweizer entschieden sich damals mit 77 Prozent der Stimmen deutlich dagegen. Die Initiatoren deuteten die Abstimmung dennoch als Erfolg, weil sie die Debatte über das Grundeinkommen vorangebracht hätte. In Deutschland ist eine Volksabstimmung wie in der Schweiz nicht möglich. Deshalb die Partei. Die Utopie eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle soll wählbar werden. Und mit ihr Susanne Wiest.
Seit fast zehn Jahren wohnt Wiest mit ihrer Familie in einem Dorf bei Greifswald. Geboren und aufgewachsen ist sie in Bayern, als Tochter einer Grundschullehrerin und eines Chirurgen. Nach dem Abitur zieht sie nach Berlin und macht eine Ausbildung zur Fotografin. Sie bastelt eine Camera obscura, einen lichtdichten Kasten mit Loch, mit dem man einfache Aufnahmen machen kann. Außerdem näht sie ein orientalisches Zelt mit Spitzdach.
Mit dieser Ausrüstung tingelt sie als Schaustellerin über Mittelaltermärkte. Weil das Geld, das sie verdient, nicht für die Miete reicht, kauft sie mit Freunden zwei Zirkuswagen, einen Schlafwagen mit blauen Fenstern und einen Küchenwagen mit kleinem Ofen. Mal stellen sie die Wagen in einem Gemüsegarten am Rande von Potsdam ab, mal in einer Wagenburg in Berlin-Mitte. Ohne Wasserleitung, manchmal auch ohne Strom.
Wie geht ein unabhängiges Leben? Das ist damals die Frage, auf die Susanne Wiest eine Antwort sucht. Sie bekommt vier Kinder. Eines verliert sie durch eine Krankheit, ein zweites durch einen Unfall. Verzweiflung und Trauer brechen über sie herein. Das Geld für ihr antibürgerliches Leben verdient sie nun als Tagesmutter. Ihre Arbeit nennt sie „Liebesdienst am Kind“.
2006 liest sie zum ersten Mal von der Idee des bedingungslosen Grundeinkommen, in einem Internetforum. Sie ist fasziniert. „Erst durch diese Idee bin ich von einer ohnmächtigen Bürgerin zu einer engagierten Aktivistin geworden“, sagt sie heute. 2008 startet sie eine Petition, die innerhalb weniger Stunden so viel Zuspruch erhält, dass der Bundestagsserver zusammenbricht – am Ende unterzeichnen fast 54.000 Befürworter.
Wenig später beschließt Wiest, das Thema in die Parteien zu tragen. Sie füllt Aufnahmeanträge aus, von allen Parteien gleichzeitig, stößt aber vor allem auf Ablehnung. Zweimal kandidiert sie für den Bundestag, 2009 als Parteilose, 2013 als Kandidatin der Piraten. Sie sitzt bei Sandra Maischberger im Fernsehstudio und wenige Jahre später beim „Zukunftsdialog“ mit Angela Merkel im Kanzleramt. Wiest sagt, der Termin bei der Kanzlerin habe sie an eine „monarchische Audienz“ erinnert. Sie erlebt, wie die Linken und die Grünen bei der Bundestagswahl 2013 ankündigen, eine Enquete-Kommission zum bedingungslosen Grundeinkommen einzurichten. Und wie sie später aus strategischen Gründen nichts mehr wissen wollen von ihrem Wahlversprechen.
Seit nunmehr 15 Jahren streitet Wiest für die Idee. Der Satz, den sie nicht mehr hören kann, lautet: Macht das bedingungslose Grundeinkommen die Menschen nicht faul? Nein, findet Wiest und schüttelt die roten Locken, das bedingungslose Grundeinkommen, diese „größte politische Vision der Gegenwart“, mache die Menschen frei und selbstbestimmt. Wer befürchtet, dass dann niemand mehr die schlecht bezahlten Knochenjobs erledigen will, dem entgegnet sie: „Unattraktive Jobs müssen entweder besser bezahlt, attraktiver ausgestaltet oder automatisiert werden.“
Wiest sagt, das Grundeinkommen sei eine politische Idee, die kein Feindbild brauche
Wie genau das Grundeinkommen aussehen könnte, darüber wird unter Ökonomen seit Jahren gestritten: Die einen wollen es über Steuererhöhungen finanzieren und gleichzeitig sämtliche Sozialleistungen streichen.Andere plädieren dafür, das Grundeinkommen an das Volkseinkommen zu koppeln. Die einen halten 600 Euro im Monat für angemessen, die anderen mehr als 1.000.
Es gibt Länder und Städte, da wird die Idee bereits getestet. In den Niederlanden etwa, in Kanada, in Finnland (siehe unten). Wiest beobachtet diese Experimente genau. Ein konkretes Modell schlägt ihre Partei aber nicht vor. Sie sei eher ein Werkzeug, um die Idee überhaupt zu den Menschen zu bringen, sagt Wiest. „Wir sind eine Plattform für die Diskussion“, sagt Wiest. „Wir erbringen eine demokratische Dienstleistung.“
Vor wenigen Wochen wurde Susanne Wiest auf dem Bundesparteitag des Bündnisses Grundeinkommen zur Vorsitzenden gewählt. Sie sei die beste Kandidatin für diese Aufgabe, findet Enno Schmidt, der Mitbegründer der Schweizer Volksinitiative zum Grundeinkommen. Weil sie wisse, „wovon sie die Finger lassen muss, zum Beispiel von Ideologie, Zwang und Belehrung“. Ronald Trzoska, der die Partei mit aufgebaut hat, sagt, Wiest sei eine „charismatische und schillernde Persönlichkeit“.
Beim Unterschriftensammeln auf dem Greifswalder Marktplatz tritt Susanne Wiest nicht auf wie eine Vorsitzende. Sie hält keine Reden, verteilt keine Flyer. Sie hört den Leuten einfach zu. Einmal fragt sie ein bärtiger Mann, was denn neu an sei an ihrer Partei. Das bedingungslose Grundeinkommen sei „die erste politische Idee ohne Feindbild“, sagt Wiest. Die Antwort gefällt dem Mann. Er zückt einen Stift und unterschreibt.
ENDE
Kastentext:
Die Idee
Das bedingungslose Grundeinkommen soll jeder Bürger unabhängig von seiner finanziellen Lage erhalten – ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Gestritten wird darum seit Jahrzehnten, umgesetzt hat die Idee bisher kein Land der Welt. Allerdings gibt es erste Testläufe. In Finnland etwa erhalten 2.000 erwerbslose Bürger zwei Jahre lang ein Grundeinkommen von monatlich 560 Euro. In Berlin verlost ein Start-up seit drei Jahren regelmäßig ein Grundeinkommen von 1.000 Euro monatlich, bewerben darf sich jeder, auch Kinder zählten schon zu den Gewinnern.
Die Partei
Das „Bündnis Grundeinkommen“ wurde im September 2016 gegründet, derzeit hat die Partei 250 Mitglieder. Sie wird sich auflösen, sollte das Grundeinkommen eingeführt werden, so steht es im Parteiprogramm. Ein konkreter Betrag für das Einkommen wird darin nicht genannt, lediglich, dass es die Existenz sichern und eine Teilhabe am Gemeinwesen ermöglichen soll. Susanne Wiest ist seit März 2017 Bundesvorsitzende.